Alfa Romeo 1900 – die Sensations-Limousine aus Mailand

Der Alfa Romeo 1900 kam im Jahr 1950 überraschend auf den Markt – eine wirklich große Überraschung. Man hatte damals erwartet, dass Alfa Romeo als erstes neues Modell nach dem Krieg einen teuren Sechs- oder Achtzylinderwagen präsentieren würde. Doch anstelle dessen sorgten die Macher für Verblüffung mit einem brandneuen Vierzylindertourenwagen, der zudem über eine selbsttragende Karosserie verfügte und nur die Hälfte der bisherigen Alfa Romeo Fahrzeuge kostete. Präsentation des neuen Alfa 1900 war dann im Oktober 1950 auf dem Autosalon in Paris.
Präsentation in Etappen
Im Jahr 1950 wurde von der Automobil Revue bekannt gegeben, dass an einem kleineren Modell in Mailand gearbeitet wird. Im Mai desselben Jahres fanden erste Testfahrten mit dem noch geheimen 1,9-Liter-Tourenwagen statt, der zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht seine endgültige Form hatte. Der Generaldirektor Ingenieure Antonio Alessio begleitete einige Journalisten ausserhalb des Autosalons in Turin auf eine Probefahrt und die Automobil Revue berichtete begeistert: “Der Prototyp zeigte mit 4 Personen eine geradezu unglaubliche Beschleunigung sowohl auf der Ebene wie ganz besonders am Berg, was auf das ebenso unglaublich niedrige Gewicht der Limousine, das der Hersteller mit ca. 1000 kg angab, und das entsprechend günstige Leistungsgewicht zurückzuführen ist. Bei weicherer Federung als beim Typ 2500 und eher noch besserer Manövrierfähigkeit gibt, der 1,9- Liter dennoch, soweit der erste Augenschein es zu beurteilen gestattete, die Strassenlage und die Lenkpräzision, die man von einem Alfa verlangt. In seiner Motorklasse verspricht dieses Modell Fahrleistungen, die man bei entsprechend niedrigem Verbrauch und dennoch gutem Innenraum heute von keinem Wagen auf dem Markt verlangen kann.“
Obwohl das Auto nicht beim Turiner Autosalon gezeigt wurde, war es trotzdem das Gesprächsthema der Messe. Es dauerte noch etwa ein halbes Jahr, bis die Serienversion am 2. Oktober 1950 in Mailand der Presse vorgestellt wurde. Orazio Satta Puliga hatte zusammen mit Gaetano Ponzoni von Touring Superleggera einige Verbesserungen am Design vorgenommen, um die endgültige Limousine sportlicher und leichter wirken zu lassen, aber immer noch erkennbar als Alfa Romeo.
Der neue Alfa Romeo entstand unter der Leitung von Ivo Colucci und Giuseppe Busso. Die Ingenieure hatten nicht viel Zeit für die Entwicklung eines komplett neuen Autos. Colucci und Busso konnten praktisch bei null anfangen, da sowohl der Motor mit vier Zylindern als auch die selbsttragende Karosserie zum ersten Mal bei Alfa verwendet wurden. Zum ersten Mal befand sich das Lenkrad auf der linken Seite des Alfa Romeos 1900, während man bereits Erfahrung mit einer Lenkradschaltung hatte.
Der Vierzylindermotor hatte einen Graugussblock und einen Aluminiumkopf sowie zwei obenliegende Nockenwellen und halbkugelförmige Brennräume – ganz im Stil von Alfa Romeo. In der ersten Version verfügte er über einen Vergaser und leistete beeindruckende 80 PS bei 4800 Umdrehungen pro Minute. Alle vier Vorwärtsgänge waren synchronisiert.
Während vorne die Räder mit klassischen Einzelradaufhängungen und Dreiecksquerlenkern geführt wurden, kam hinten eine Starrachse zum Einsatz. Diese bestand aus Leichtmetall gepressten Längsstreben und war mit Schraubenfedern sowie Teleskopstoßdämpfern ausgestattet.
Tradition trifft auf Fortschritt
Die Karosseriegestaltung der Alfa-Romeo-Konstrukteure erwies sich als äußerst gelungen, wie in der Automobil Revue zu lesen war: „Trotz des Wunsches nach einer schlichten und unauffälligen Außenoptik besitzt die Karosserie den traditionellen Eleganzfaktor der Marke.“
Die deutsche Zeitschrift „Das Auto“ ging etwas detaillierter darauf ein: “Gut war es, dass man beim Entwurf der neuen Karosserie nicht den großen Fehler gemacht hat, eines jener unpersönlichen Gesichter anzuwenden, die seit Jahren leider nur zu oft zu finden sind. Die graziöse, charakteristische Alfa-Kühler-Attrappe ist beibehalten worden und schon von weitem deutlich zu erkennen. Es wäre töricht gewesen, dieses Gesicht, das im Laufe der Jahre schon zur Tradition geworden ist, jener sehr diskutablen Sucht, die viele Wagen „modern“ (schön auf alle Fälle nicht!) machen will, zu opfern. Es gibt wahrlich schon viel zu viele Wagen, die unter übertriebenen, geschmacklosen Chromspielereien, die leider eine fast allgemeine Eigenschaft der Karosserien unserer Zeit geworden sind, ihre Eigenart der Mode zuliebe eingebüßt haben.
Das Verhältnis vom Radstand zur Spur gibt dem Wagen vorteilhafte Proportionen und damit eine, elegante Linie. Dieses Verhältnis scheint im Falle des Alfa Romeo 1900 ideal zu sein. Wichtig ist dabei auch der große, bequeme Raum für die Fahrgäste und ihr Gepäck. Selbst die Türen sind so ausgebildet, dass der Raum vollkommen ausgenützt wird und hinten nicht weniger als sieben normale Koffer mitgenommen werden können. Das im Kofferraum vertikal untergebrachte Reserverad ist leicht zugänglich, ohne das Gepäck herausnehmen zu müssen.“
Ein wahrer Tourenwagen
Natürlich konnten es die Autotester nördlich und südlich der Alpen kaum erwarten, den sportlichen Alfa zu fahren. Die Automobil Revue entschied jedoch, bis 1953 zu warten – zum einen, weil die Produktion erst richtig angelaufen war und zum anderen, weil stärkere Versionen mit Doppelvergaser verfügbar waren. Dann aber legten sie gleich beeindruckende 6230 km zurück. Mit einer Beschleunigung von nur 19 Sekunden von 0 auf 100 km/h erwies sich die Limousine als genauso schnell wie erwartet. Mit einer Höchstgeschwindigkeit knapp über 160 km/h (laut Tacho sogar fast 190 km/h) gehörte der Alfa Romeo zu den flottesten Autos auf der Straße. Dabei lag der Verbrauch bei meist schneller Fahrweise unterhalb von 14 Litern pro 100 km.
Das waren echt beeindruckende Zahlen für ein Auto, das nur 20.800 CHF kostet. Die einfachere Version gab es in der Schweiz schon für 19.500 CHF und da war sogar die Heizung mit dabei.
Auch die Strassenlage konnte überzeugen: “Die Fahrsicherheit entspricht in jeder Beziehung dem hohen Standard, den die früheren Typen der Marke erreichten. Trotz den konstruktiven Vereinfachungen, die im Interesse der Herstellungskosten vorgenommen wurden, haben sie sich sogar, spürbar verbessert. Die Federung ist straff und verursacht auf gewellter und schlechter Fahrbahn spürbare Auf- und Abwärtsbewegungen der Karosserie; diese werden jedoch so gedämpft, dass sie keine eigentlichen Stösse durchlassen, anderseits aber nie in das langsame Schaukeln übergehen, das empfindlichen Insassen auf längeren Strecken die Freude am Fahren nehmen kann. Kleine Schwingungen um die Längsachse und leichte horizontale Verschiebungen des Wagens gehören zu den typischen Merkmalen der Fahrweise des 1900. Unter allen Verhältnissen verfügt der Fahrer über eine sichere Bodenhaftung sämtlicher vier Räder. Während schnelle, langgezogene Kurven nur geringe Lenkradkorrekturen verlangen, ändert sich das Verhalten in engen Kurven, wo der Wagen kräftig untersteuert und es auf etwas mehr oder weniger Lenkeinschlag nicht draufankommt… “ berichteten die Redakteure von AR ausführlich.
Mit dem Alfa war es möglich, am Wochenende tatsächlich an Motorsport-Wettbewerben teilzunehmen, selbst wenn sie so klangvolle Namen wie Mille Miglia oder Targa Florio trugen. Doch das war noch nicht alles – während der Woche konnte man mit diesem Wagen bis zu sechs Personen und jede Menge Gepäck herumfahren.
Die Alfa-Ingenieure ruhten sich jedoch nicht aus, als die Produktion im Jahr 1951 in vollem Umfang begann. Schon bald brachten sie eine TI-Version heraus, die nun über satte 100 PS verfügte. Im Jahr 1954 bekam der 1900 Berlina Zuwachs in Form des kleinen Geschwisterchens Giulietta, das zunächst als Coupé und später auch als Limousine erhältlich war. Gleichzeitig wurde der Hubraum des 1900 von 1884 auf stattliche 1975 cm3 erweitert und die Leistung stieg auf beachtliche 90 PS. Man konnte den überarbeiteten Alfa deutlich an den breiten Chromstäben links und rechts vom Kühler sowie an den markanten Stoßstangenhörnern erkennen. Beim TI Super mit seinen zwei Doppelvergasern wurde sogar eine Leistungssteigerung auf beeindruckende 115 PS erreicht.
Viele Geschwister
Die Italiener hatten von Anfang an auch an die unabhängigen Karosseriebauer gedacht und eine Version des Alfa Romeo 1900 mit kürzerem Radstand entwickelt. Später gab es sogar eine Variante namens Super Sprint mit Fünfganggetriebe.
Touring, Pinin Farina, Zagato, Boano, Colli, Stabilimenti Farina, Boneschi, Ghia, Ghia-Aigle, Worblaufen, Vignale und Bertone haben alle mehr oder weniger aufregende Aufbauten für den Alfa Romeo 1900 gestaltet.
Die außergewöhnlichsten Kreationen stammten dabei sicherlich aus dem Hause Bertone mit den BAT-Modellen. Die Coupés von Touring hingegen waren die am häufigsten gebauten Varianten des Alfa Romeo 1900.
Ablösung nach neun Jahren
Der Bau des Alfa Romeo 1900 wurde bis zum Jahr 1959 fortgeführt. Insgesamt wurden fast 17.400 Limousinen produziert sowie knapp über 3.900 Spezialkarosserien wie Coupés und Cabriolets.
Bereits im Jahr 1957 wurde der Nachfolger des Alfa Romeo 1900 auf dem Turiner Autosalon vorgestellt. Seine Karosserie war deutlich eckiger als die runde Form des Vorgängermodells
Sportlich
Es lässt sich nur erahnen, wie sportlich die „kleine“ Alfa-Limousine (440 cm lang, 160 cm breit, 149 cm hoch) damals gewesen sein muss. Doch selbst aus heutiger Sicht zeigt der knapp über 1,1 Tonnen schwere Viertürer überraschend gute Agilität – etwas, was man einer über siebzig Jahre alten Konstruktion kaum zugetraut hätte. Natürlich wirken eine durchgehende Sitzbank und eine Lenkradschaltung heute nicht mehr unbedingt sportlich. Aber einmal in Fahrt gebracht beschleunigt der Alfa dynamisch und meistert auch Kurven mit Leichtigkeit. Vorausgesetzt es sitzt ein furchtloser Fahrer am dünnen Lenkradkranz. Damals war man sicherlich König auf Landstrassen oder am Gotthardpass.
Auch heute noch zieht die Berlina Aufmerksamkeit auf sich – selbst wenn sie grau ist. Die Limousine mag zwar praktisch ausgestorben sein aber an den ersten kleinen Nachkriegs-Alfa wird man sich definitiv immer erinnern.
Quellenangabe: https://www.zwischengas.com

 

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